[10.12.] Ode an die Big Boxen, Strophe 3: Secret of Evermore
Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als von Secret of Evermore außer des Titels noch kaum etwas bekannt war und vielerorts aufgrund der Namensgebung davon ausgegangen wurde, dass es sich um den Nachfolger zum beliebten Secret of Mana handle. Aber fast schon das Gegenteil war der Fall – SoE wirkte geradezu wie die Antithese zu SoM: Nicht Square Japan war der Entwickler, sondern die (leider kurz darauf aufgelassene) US-Niederlassung. Aus dem animelastigen Trio Junge/Mädchen/Koboldin wurde ein wesentlich westlicher gezeichnetes, dynamisches Duo aus einem Teenager und dessen Hund. Zwei- und Dreispielermodus fielen der Schere zum Opfer. An Stelle von Zauberei kam Alchemie zum Einsatz (was auch einen wirklichen Unterschied machte, musste der Spieler doch nach passenden Zutaten Ausschau halten, anstatt einfach Magiepunkte verballern zu dürfen). Statt einer knallig bunten Fantasywelt war der Ort des Geschehens eine von einem verrückten Wissenschaftler erschaffene, künstliche Realität, die meist in dezenteren, vergleichsweise realistischen Farben gehalten war. Die Musik war weniger per se klassisch-episch gehalten, sondern bot eine stimmungsvolle Bandbreite von Gitarrensoli bis zu überraschend authentischen Geräuschkulissen (wie Stimmengewirr am Marktplatz). Und während emotional-tragische Momente komplett ausblieben, gab sich der Held stets lässig und konnte durch seine pseudo-coolen Kommentare bisweilen doch etwas nerven.
Ihr seht: Die Tour durch das künstliche Land Evermore ist alles andere als ein müder Abklatsch der Mana-Odyssee. Steuerung, Kampfsystem und auch das ringförmige Untermenü orientieren sich stark am zweiten Teil der Seiken Densetsu-Saga, aber so ziemlich alles andere hat einen komplett eigenständigen Charakter. Das fängt schon bei Ausgangspunkt der Story und Szenario an: Der junge Held entdeckt anstatt eines Schwertes im Stein lediglich die Vorliebe seines Hundes für Katzen – der Kläffer geht ihm durch und auf der Suche nach selbigen verirrt sich der Bursche in ein verlassenes Labor am Rande seiner Heimatstadt (im Original ein US-Provinznest, in unserer Version – typisch Claude M. Moyse – Großostheim in Bayern): Hier erschuf Dr. Igor Seltsam vor 30 Jahren die Fantasiewelt Evermore (ein Ort irgendwo zwischen Realität, Holodeck und Videospiel), doch kehrten seine drei Kollegen und er aufgrund einer Intrige seines Assistenten Edgar nie wieder aus diesem Paralleluniversum zurück. Und da der dämliche Hund nichts Besseres zu tun hat, als an dem Kabel einer Teleportationsmaschine zu knabbern und sie damit zu aktivieren, teilen er und sein Herrchen bald das Schicksal der Verschollenen...
Mal ehrlich: Sieht dieses Riesenviech nicht genial aus? Die Endgegner sind für SNES-Verhältnisse optisch gut bis geradezu spektakulär ausgefallen und es macht eine Menge Spaß, gegen sie zu kämpfen. Der abgebildete Vulgor, König der Käfer, ist im anglo-amerikanischen Raum übrigens das „Wappentier“ der SoE-Verpackung.
Gut, sonderlich komplex ist die Story nicht – im Wesentlichen geht es nur darum, wieder den Weg nach Hause zu finden und gemeinsam mit Prof. & Co. aus Evermore zu fliehen. Auch vermisste ich damals schmerzlich einen großen, immer wieder auftretenden Bösewicht, zu dem man als Spieler eine Beziehung aufbauen kann: Edgar gibt sich de facto nur am Anfang und ganz am Ende die Ehre, und die bösen Doppelgänger der Gefährten des Wissenschaftlers – ein kleines Mädchen, ein alter Archäologieprofessor und eine beleibte Bibliothekarin – fungieren zwar als die Oberschurken der verschiedenen Epochen, aber treten nie selbst zum Kampf an, sondern lösen allenfalls gefährliche Ereignisse auf oder schicken Bossmonster vor, was man schon ein klein wenig enttäuscht.
Apropos „Epochen“: Was das Szenario so enorm abwechslungsreich macht, ist der Umstand, dass in der virtuellen Realität Evermore alles möglich ist – bevor der Professor in der futuristischen Raumstation Assitopia gerettet werden will, geht es durch die raptorenverseuchten Urwälder von Prähistoria, die Wüsteneien und Städte des griechisch-römischisch-ägyptischen Antika und die unvermeidbare Mittelalterwelt Gotika. Dabei findet ihr massenhaft alchemistische Formeln und – der Atmosphäre besonders dienlich – eine Bandbreite von epochenspezifischen Waffen: Von einer steinzeitlichen Knochenkeule bis zu einem Laserspeer ist alles drin. Ja, sogar euer Hund verändert sich passend zur Umgebung: Im Vorspann ein kleiner Mischling, morpht er in Evermore in die Gestalt eines massiven Wolfshunds (Prähistoria), eines Windhunds (Antika), eines Pudels (Gotika) und sogar eines Toasters mit vier Beinen (Assitopia)!
Ihr merkt es – Secret of Evermore wirft alle Konventionen des japanophilen Fantasy-Settings über den Haufen, und gerade das macht es für Action-Adventure- und RPG-Veteranen so frisch und unterhaltsam. Gut, der Protagonist hätte ruhig etwas weniger „cooler als Eissss“ designt werden können – ein Minimum an Respekt vor der unbekannten Welt oder gar Angst hätte ihn wesentlich glaubwürdiger gemacht. Das Kampfsystem wiederum wurde fast 1:1 aus Secret of Mana übernommen und funktioniert gut, auch wenn wie gehabt die Prozentanzeige starke Geschmackssache ist. Jammerschade ist hingegen der Wegfall des Mehrspielermodus – nicht einmal zu zweit funktioniert es, obwohl mit Junge und Hund permanent zwei Protagonisten vor Ort wären. Zumindest kann jederzeit zwischen ihnen gewechselt werden.
Aber während solche Rückschritte gegenüber SoM vorhanden sind und der absolut nicht japanische Stil Geschmackssache ist, will ich nicht unerwähnt lassen, dass es auch handfeste Verbesserungen gegenüber dem „Vorgänger“ gibt: Die Dungeons wirken verzweigter und weisen eine höhere Rätseldichte auf, die oft riesigen und teils gerenderten Bosse sind meist wahre Highlights und werden auch nicht recycelt. Jede Epoche hat ihre eigene Romantik und kann voll und ganz überzeugen (Es ist ja eigentlich seltsam, wie selten die Steinzeit in Spielen des Genres thematisiert wird – spontan fällt mir als weiteres Beispiel da nur Earthbound ein), während originelle Dungeons wie die futuristische Lava-Regulierungsmaschine im vorgeschichtlichen Vulkan oder der baufällige, ziemlich „selbstgebastelt“ wirkende Turm eines kauzigen mittelalterlichen Gelehrten sehr im Gedächtnis bleiben. Und der riesige Marktplatz der Hauptstadt von Antika, auf dem man alleine schon Stunden damit verbringen kann, von Stand zu Stand zu laufen und per Tauschhandel (!) einige der seltensten Items des Spiels zu ergattern, ist einfach nur noch toll.
verfasst von „OldMacMario“
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Letzte Aktualisierung: 10.12.2010, 9:32 Uhr